Tagebuch von N.N.
Es war nötig, ganz tief zu fallen
Nach meiner Kündigung war mein Leben total aus den Fugen geraten. Meine ganze Identität war an meinem Job gehangen. Er war mein Leben. Jetzt hatte ich nichts mehr, so glaubte ich jedenfalls.
Es ging mir zusehends schlechter. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ich fühlte mich einfach schrecklich. Meine Arbeitslosigkeit, meine Angst, eine neue Stelle anzutreten, waren unerträglich. Ich hatte alle Substanz verloren. Ich war fest überzeugt, dass mir niemand mehr helfen konnte. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern besuchte, kostete mich das fast eine
unerträgliche Anstrengung, und ich dachte: „Heute habe ich euch zum letzten Mal gesehen.“
Ich dachte jeden Abend: „Morgen, wenn du ausgeruht bist, geht es dir besser.“ Jeden Morgen die Enttäuschung, dass es nicht so war. Der Gang zum Arbeitsamt fiel mir immer schwerer. Ich bewarb mich wie wild, immer in der stillen Hoffnung, dass ich mich nicht irgendwo vorstellen musste. Die Familie dachte, wenn ich eine Stelle hätte, wäre alles wieder o.k. Ich selbst war überzeugt, dass es eine Katastrophe geben würde. Niemand sagte mir, dass ich mich in einer schweren Depression befand.
Mit allen möglichen Mitteln versuchte ich, mich von den Qualen zu befreien. Mit einem Glas Alkohol hatte ich wieder mal eine halbe Stunde Ruhe und konnte mich etwas entspannen.
Mit diversen Beruhigungsmitteln, die ich immer häufiger und in höheren Dosen einnahm, versuchte ich, mich über Wasser zu halten. Ich zog mich zurück, jeder Anruf war mir zuviel.
Ich redete fast nichts mehr. Ich konnte nicht mehr weinen. Niemand verstand mich. Meine Gefühle waren erloschen, niemand hatte einen Zugang zu mir.
Ein Arzt erkannte rasch die ganze Tragweite und riet mir, in eine Klinik zu gehen. So kam ich in die Psychi XY. Es war ein Horror. Ich hatte fast den ganzen Tag Besuch und
Telefonanrufe, was mich überforderte. Jeder wollte mir irgendwie helfen, doch an mir prallte noch immer alles ab. Zu den Pflegepersonen hatte ich kein Vertrauen. Sie erwarteten von mir, dass ich mich öffne. Nach zwei Wochen war ich nicht mehr zu halten im Spital. Meine
Schwester nahm mich dann zu sich.
Die Qualen begannen wieder, fast noch schlimmer als vorher. Jeden Morgen bis elf Uhr spielte sich ein Drama ab, weil ich einfach nicht aus dem Bett kam und körperliche Qualen
litt. Ich konnte mich anstrengen wie ich wollte, es ging einfach nicht besser. Meine Schwester musste sich jeden Morgen die gleichen Sätze anhören: „Ich will nicht mehr, ich kann nicht
mehr.“ Sie sagte mir immer: „Aber du musst.“ Sie war sehr traurig, denn sie sagte: „Ich brauche dich. Wir haben schon so Vieles gemeinsam durchgestanden. Komm, wir geben
nicht auf.“ Das verstand ich mit dem Kopf sehr gut. Sie tat mir auch sehr leid, weil ich ihr so viel Kummer bereitete. Meine Schwester versuchte alles Mögliche, mein Leben etwas
erträglicher zu machen. Die Familie hielt die Spannung fast nicht mehr aus.
Während dem Aufenthalt in der Psychi hatte ich eine Frau kennengelernt, die auch an Depressionen litt und mir erzählte, dass sie nach Langenthal in eine christliche Klinik gehe.
Ich beschloss schon damals, wenn ich je wieder in eine Klinik müsste, dann nur dort. Es wurde immer schlimmer. Am Abend verlor ich immer die Stimme. Meine Spannung war fast
nicht mehr auszuhalten. Ich traute nur noch meiner Schwester. Sobald sie nicht mehr in meiner Nähe war, bekam ich so Angst. ... Ich sah ein, dass es so nicht weitergehen konnte.
Der Arzt überwies mich in die Klinik SGM. Es war sehr schwer am Anfang. Ich machte meiner Meinung nach keine Fortschritte. Ich wollte so bald wie möglich wieder nach Hause.
Die Menschen dort haben mir soviel Liebe erwiesen. Sie haben mir geholfen, endlich mein
Wertsystem genauer anzuschauen. Sie führten mich dazu, wieder zu glauben, dass ich einen Platz im Leben hätte und dass nicht alles aussichtslos sei, auch wenn ich jetzt keine
Stelle hätte. Ich durfte endlich erfahren, wer ich bin. Sie versicherten mir, trotz meiner Widerstände, dass es im Moment nicht das Wichtigste sei, eine Arbeit zu haben. Ich müsste mich zuerst selbst finden. Nach einem Monat merkte ich, dass die Therapie langsam zufruchten anfing. Die Maltherapie war am Anfang die einzige Möglichkeit, einen Zugang zu meiner Seele zu finden, Die Gespräche hingegen brachten mir eher wenig, ausser die mit dem Pflegepersonal. Die Schwestern und Ärzte beteten sehr viel für mich und mit mir. Auch setzten sie gezielt Medikamente ein. Endlich ging es mir etwa besser, und ich begann, auch meinen Körper teilweise wieder zu spüren. Nach drei Monaten wurde ich entlassen. Ich hatte das Glück, in Dr. X. einen Arzt zu finden, der mich sehr gut abholen konnte. Er hat mich sehr unterstützt, als ich soweit war, in eine IV-Eingliederung zu kommen.
Ich habe immer wieder Krisen, aber ich bin viel stärker geworden. Ich weiss jetzt, wer ich bin.
Es war nötig, ganz tief zu fallen, damit ich alles aus der Hand geben musste. Ich habe eine enorme Freiheit gewonnen. Ich glaube, Sie würden mich kaum wiedererkennen. Ich bin nicht mehr wie das Blatt im Wind. Ich freue mich wieder am Leben. Ich bin für alle Menschen dankbar, die mit mir ein Stück Weg gegangen sind. All die vielen Tränen, die ich in der Klinik vergossen habe, waren nicht umsonst. Jedoch wenn man so mitten drin ist, sieht man das alles nicht mehr. Ich war so froh, dass andere Menschen mich nicht aufgaben, an mich glaubten und eine Zukunft für mich sahen, wo ich es mir einfach nicht mehr vorstellen konnte, je wieder eine Freude zu haben, wie ich sie jetzt erlebe.
Es war für mich sehr wichtig, alles nieder zuschreiben, was mich in dieser Zeit bewegte, damit ich alles ablegen kann. Es ist und bleibt ein Teil meines Lebens, den ich nicht missen möchte. Es ist mir auch wichtig, den Menschen zu erklären, was eine Depression ist. Es ist nicht nur eine kleine Verstimmung. Du bist gefangen wie in einem Schraubstock. Auch ist es nicht so, dass du den ganzen Tag weinst. Ich wäre froh gewesen, ich hätte weinen können.
Eine Depression macht sich selbständig, da hilft dir der stärkste Wille nicht. Den hatte ich ja.
Erst als ich den inneren Widerstand aufgeben konnte, ging es mir besser. Dass meine Schwester alles mit mir durchhielt, ist für mich ein Rätsel. Es ist so wichtig, dass Leute zu einem stehen. Viele haben mir "den Kopf gewaschen", als ich ihnen sagte, dass ich nicht mehr könne. Das war genau das Verkehrte. Ich kann aber verstehen, dass ich bei ihnen eine grosse Hilflosigkeit ausgelöst hatte. Darum zog ich mich immer mehr zurück; Verstummen ist ein Teil davon. Der Zugang zu einen selbst ist einfach abgeschnitten.
Es ist sicher nicht vollständig, was ich hier niedergeschrieben habe. Ich habe so viele wertvolle Momente in Langenthal erlebt, die zu meiner Genesung führten. Es war auch
immer sehr wohltuend, zu spüren, dass die Menschen, die mich begleiteten, sich über jeden Fortschritt mit mir freuten und mir das auch mitteilten. Als ich wieder das erste Mal bei Dr. X war, hatte er so Freude an meiner Veränderung, und er sagte mir das auch. Das war enorm wichtig für mich.
Auch dort, wo ich jetzt arbeite, brauchte ich viel Ermutigung. Frau Y. hat das immer gemacht.
Sie spürte so gut, dass ich es brauchte. Sie sagte mir einmal: "Ich sage Ihnen so lange, dass Sie es gut machen, bis Sie es glauben." Das war dann auch mit der Zeit der Fall.
Ich habe neustens auch festgestellt, dass ich mich nicht an Menschen klammern kann. Ich mache mich auf, Gottes Nähe zu suchen. Ich weiss mich geborgen in seiner Hand. Nur bei Gott bin ich ganz geborgen. Jedoch spricht er und sprach zu mir sehr durch Menschen.
N.N. (Bericht eines Betroffenen)
Quelle: Tagebuch